Ägypten, westliche Wüste vor 3450 Jahren

Mit halb geschlossenen Augen blinzelte der Junge unter der alten Dattelpalme in Richtung der westlichen Berge.
Ihm gefiel das Schauspiel, dass er dort sah. Der Fels schien durch die Glut der Sonne zum Leben zu erwachen. An diesem Ort wohnte eine schöpferische Kraft, die Ewigkeit versprach. Die Wüste wurde durch die trockene Hitze genährt. Jeder Atemzug brannte wie Feuer in den Nasenwänden des Jungen. Tränen, die sich den Weg über seine Wangen suchen wollten verdunsteten schon bei dem Versuch über seine dunklen Wimpern zu rollen.
Amenemhet, der Prinz, der Freund, sein älterer Bruder war gestorben. Liebe umgab ihn hier in der Einöde, denn nur an diesem heiligen Ort konnte er den Geist Amenemhets so intensiv spüren. Obwohl Amenhotep wusste, dass sich die Brüder für immer nah sein würden, wurden seine schmächtigen, sonnengebräunten Kinderschultern von tiefem Schluchzen geschüttelt.

Plötzlich stand, wie aus einer anderen Welt hervorgetreten, ein Ibis von besonderer Größe und beinahe göttlicher Erhabenheit neben der Palme.
Er fing an, mit seinem mächtigen, spitzen Schnabel im Wüstensand zu hacken.
Dem Jungen fiel dabei auf, dass ein Stein sichtbar wurde. Er versuchte durch das hektische Treiben des Vogels hinweg einen Blick zu erhaschen. Dieser Stein war mit Hieroglyphen von außergewöhnlicher Schönheit bedeckt.
Um den ehrwürdigen Vogel, der wie er wusste, auch den Schreibergott, den Gott des Wissens Thot verkörpert, nicht zu erschrecken und ihn nicht bei seiner wichtigen Arbeit zu stören, blieb Amenhotep ruhig auf seiner Seite des Baumes sitzen.
Nach wenigen Minuten intensiven Grabens wurde die gesamte Ansicht einer beschriebenen Felsplatte sichtbar. Die Arbeit des Ibis war getan. Gemächlichen Schrittes ging er um die Dattelpalme herum, blieb etwa einen halben Meter vor Amenhotep stehen, wobei der Vogel seinen riesigen Schnabel auf ihn richtete.

Beide Geschöpfe, der Junge und der göttliche Vogel Thot sahen sich fest in die Augen. Trotz seines kindlichen Alters spürte der kleine Amenhotep, dass dieses Ereignis großen Einfluss auf sein späteres Leben nach sich ziehen sollte.
Ohne sich an diesem strahlenden, sonnigen Tag auch nur im geringsten anzukündigen wehte eine sehr stürmische Windböe dem völlig überraschten Kind Unmengen von Sand ins Gesicht. Nachdem er seine brennenden Augen wieder öffnen konnte, war der Ibis verschwunden. Auch die gerade noch sichtbaren Hieroglyphenplatten waren wieder vom Wüstensand bedeckt. Amenhotep prägte sich diesen Platz ein.
In einigen Jahren, wenn er ein starker Mann sein würde, wollte er hierher zurückkehren. Die Kraft, die ihm jetzt noch fehlte würde dann ausreichen, den Schatz, den er hier vermutete,  selbst zu bergen.
Doch bis dahin sollte seine Begegnung mit Thot ein Geheimnis bleiben. Ein Blick auf den Stand der Sonne verriet ihm, dass er seit Stunden an seinem Lieblingsplatz gesessen haben musste.
Wie sooft, auf der Suche nach ihm, stellte die Wache der königlichen Familie bestimmt schon den halben Palast auf den Kopf. Ärger wartete auf Amenhotep, aber der Gedanke daran lies ihn lächeln. Gemächlich schlenderte er zurück.

Kairo, Frühling, Gegenwart

Als die zweimotorige Propellermaschine in Kairo gelandet war,  musste Collin Bajon beim Aussteigen überrascht feststellen, dass es dort für ägyptische Verhältnisse unerwartet kalt und feucht war. Modriger, salziger Wind breitete sich von der Küste her aus.
Er betrat die Gangway, an deren Ende schon die nächste Überraschung auf ihn wartete.
Dunkelblond, Mitte Dreißig, blaugraugrüne Augen, weite Jeans und ein legeres, viel zu großes Sweatshirt. Trotzdem, dieses Outfit passte auf absolut faszinierende Weise zu dieser Frau, die man im ersten Moment, auf Grund der Farbe ihrer Augen und ihres Haares für eine Nordeuropäerin halten konnte.
Doch der dunkel gebräunte Teint verriet ihre mediteranen Vorfahren und verlieh ihr zusätzlich eine aufregend südländische Ausstrahlung.
Die Überraschungen nahmen kein Ende, denn sie sprach Collin an.
„Sie müssen Herr Bajon sein, ich bin Paula Prenden und ich freue mich, dass sie meiner Einladung gefolgt sind.“
„P. Prenden darunter hatte ich mir weiß Gott keine junge, attraktive Frau, sondern eher einen etwas eingestaubten Herren namens Peter oder Paul vorgestellt.“
„Enttäuscht?“
„Nein, nein ganz im Gegenteil, aber sagen sie Collin zu mir.“
„Einverstanden, wenn sie mich Paula nennen. Wir bringen ihr Gepäck zu meinem Wagen und machen uns sofort auf den Weg zum Camp.“

Nachdem Collins Reisetaschen in dem alten Mercedes 123, dessen Farbe irgendwann mal gelb gewesen sein musste, die jetzt aber zu einem bräunlichen Irgendwas tendierte und somit aus der Ferne im Wüstenmeer bestimmt nicht auszumachen war, verstaut waren, ging die Fahrt in Richtung Süden  am Fluss der Götter, dem Nil entlang.
Während Collin Bajon gespannt auf eine Erklärung über den Grund seines Ägypten-aufenthaltes wartete, erzählte Paula statt dessen von ihren Eltern, dass heißt eigentlich nur von ihrem Vater, der ein Kaffeekontor in Hamburg besitzt, recht vermögend und ein Kunstmäzen ist. Diesem Umstand verdankte sie es, sich jedes ihrer kostspieligen Hobbys, zu denen die Ägyptologie gehörte, leisten zu können.
Dem Eheglück ihrer Eltern war nur eine kurze Spanne beschieden, denn Paulas Mutter starb nur wenige Wochen nach ihrer Geburt. Zusammen mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder verbrachte sie die meiste Zeit des Jahres bei den Großeltern in Italien. Nach dem Verlust seiner geliebten Frau versuchte Paulas Vater seinen Kindern jeden noch so ausgefallenen Wunsch zu erfüllen. Leider gelang ihm dies fast ausschließlich in finanzieller Hinsicht. Vor drei Jahren kam es zum Eklat zwischen Vater und Sohn. Ihr Bruder hatte das italienische Temperament der Mutter geerbt. Lautstark hatte er seinem Vater damals vorgeworfen sich die Zuneigung seiner Kinder nicht mit Liebe sondern mit Geld sichern zu wollen. Was nach Paulas Meinung völliger Quatsch war.
Jedenfalls ist ihr Bruder seit jenem Tag verschwunden und auch jede Suche nach ihm verlief ergebnislos Collin hörte geduldig zu.

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